Mario Holzner, Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), spricht in
der Pressestunde des Internationalen Forums für Wirtschaftskommunikation (IFWK) über neue
geoökonomische Realitäten in der EU und warum diese ihre Nachbarn näher an sich binden sollte

Finanz-, Wirtschafts- und Energiekrise, Pandemie und Ukraine-Krieg – Europa ist seit Jahren mit wirtschaftlichen und politischen Umbrüchen konfrontiert. Wenn es die Europäische Union aber nicht schafft, ihre wirtschaftliche Macht in den Nachbarstaaten in politischen Einfluss zu übersetzen, läuft sie Gefahr, von weiteren Krisen erschüttert zu werden. Davor warnte wiiw-Direktor Mario Holzner dieser Tage bei einer Veranstaltung des Internationalen Forums für Wirtschaftskommunikation (IFWK) in der Wiener Börse.

„Wir schlittern seit 2007 von einer Krise in die nächste. Als EU müssen wir uns daher dringend überlegen, wie wir diese geoökonomischen Veränderungen in Zukunft angehen und welche Position wir gegenüber den Großmächten einnehmen wollen“, so Mario Holzner, Direktor des Wiener Institutes für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), der auf Einladung von IFWK-Gründer Rudolf J. Melzer zu aktuellen geoökonomischen Entwicklungen in und um Europa Stellung nahm. Die Basis für seine Ausführungen im Rahmen einer „IFWK-Pressestunde“ bildete eine neue Studie, die das wiiw in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung erstellt hat und die zum ersten Mal in Österreich präsentiert wurde. Sie beleuchtet die Auswirkungen der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Ereignisse für die EU und enthält Empfehlungen für ihr künftiges Engagement in den Nachbarstaaten. „Es ist jetzt entscheidend, sich als EU zu überlegen, wie die Union ihren starken geoökonomischen Einfluss in den Nachbarstaaten auch politisch nutzen kann“, betonte Holzner.

Sicherheitsring statt „Ring of Fire“

Was sind die geoökonomischen Hebel, die die EU betätigen muss, um diesen Einfluss besser geltend zu machen? Holzner: „Es uns muss gelingen, statt einem ‚Ring of Fire‘, also Bedrohungen, die von außen auf die Union einwirken, einen Sicherheitsring rund um die EU zu legen, damit nicht noch weitere Krisen das Herz der Union erschüttern. Ansonsten laufen wir Gefahr, das Schlachtfeld in einem neuen Kalten Krieg zu werden.“

Die Nachbarn der EU brauchen mehr Unterstützung

Die EU ist laut der Studie für die meisten ihrer Nachbarländer der wichtigste Handelspartner, hat dort also einen beträchtlichen wirtschaftlichen Einfluss. Auch aufgrund der fehlenden industriellen Basis in vielen dieser Länder müsse hier dringend gehandelt werden, so Holzner. „Unsere Nachbarstaaten brauchen einen verstärkten Zugang zu den EU-Märkten. Gerade in Wirtschaftsbereichen, in denen diese Länder stark sind, etwa der Landwirtschaft, gibt es noch keine fairen Handelsabkommen zwischen ihnen und der EU.“ Außerdem brauche es zusätzliche technische Hilfe, beispielsweise Unterstützung beim Aufbau von Zertifizierungsagenturen.

Hochtechnologie: „Europa kommt relativ spät“

Im Bereich Technologie und Wissenstransfer verliere die EU in den Nachbarländern zunehmend an Boden, sagte Holzner: „Obwohl die Union bei Hochtechnologie immer stark war und es in vielen Bereichen auch immer noch ist, gerät sie gegenüber China in ihrer Nachbarschaft zunehmend ins Hintertreffen. Dort kommen mittlerweile bis zu einem Drittel aller Hochtechnologie-Importe aus dem Reich der Mitte.“ Es gehe hier beispielsweise um die Chip- und Maschinenproduktion genauso wie um pharmazeutische Produkte: „Zu dieser Show kommen wir relativ spät. China forciert schon seit zehn Jahren die eigenen Schlüsseltechnologien. Die EU fängt erst jetzt ernsthaft damit an. Es muss daher dringend in digitale Technologien investiert und unsere Nachbarländer müssen besser in die digitalen Märkte integriert werden.“

Europa ist ein alternder Kontinent – Chance Afrika

Das Thema Arbeitskräftemobilität dürfe man bei der Diskussion um das Engagement der EU in ihren Nachbarländern ebenfalls nicht außer Acht lassen, erklärte Mario Holzner: „Ganz Europa ist ein alternder Kontinent. Die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter schrumpft. Schon bald werden fünf Prozent der arbeitenden Bevölkerung nicht mehr erwerbstätig sein.“ Gerade in der südlichen Nachbarschaft Europas, also in Afrika, gäbe es eine massive Steigerung der Bevölkerungszahl im erwerbsfähigen Alter. Auf diese Länder sollte die EU daher einen verstärkten Fokus richten, wenn es um die Zuwanderung von Arbeitskräften geht, so Holzner. „Derzeit findet allerdings noch viel an ‚Brain Waste‘ statt. Viele Migranten, die zu uns kommen, sind gut ausgebildet, arbeiten dann aber zumeist ihr Leben lang in Berufen, für die sie eigentlich überqualifiziert sind.“

Grüne Energie als Chance für Europa

Bei der Frage, wie künftig genügend grüne Energie bereitgestellt werden kann, um die Klimaziele der Union zu erreichen, sollten auch die Nachbarländer eine tragende Rolle spielen, konstatierte wiiw-Chef Holzner: „Unsere südlichen Nachbarn haben zum Beispiel die idealen Voraussetzungen für die Produktion von E-Fuels: viel Platz für Windkraftanlagen und viel Sonne. Es wäre in unserem eigenen Interesse, nicht nur innerhalb unserer Grenzen nach Lösungen und Partnern zu suchen.“

Zu wenig Koordination und Kooperation in Europa

Ein Hauptproblem bei allen Überlegungen sei vor allem, dass Europa im Gegensatz zu den USA oder China nicht geschlossen auftrete: „Hier wird nach wie vor eher gegeneinander statt miteinander gearbeitet“, so Mario Holzner abschließend unter Nennung eines Beispiels: „Nationalstaatliche Subventionen in einzelnen europäischen Ländern werden den gemeinsamen Markt zerreißen, weil sich diese wieder nur die reicheren EU-Länder leisten können.“

Die ganze Studie steht beim wiiw und der Bertelsmann Stiftung zum Download zur Verfügung.